Maulbeere stand still, hörte zu. Sie ließ seine Worte wie eine Brise an sich vorbeiziehen, doch der Klang blieb hängen – ein Gefühl, das in ihr aufstieg und in ihre Brust drückte. Flimmerpelz’ Stimme hatte sich verändert, wurde ruhiger, nachdenklicher. "Du klingst, als wärst du dein Leben lang auf dem Sprung gewesen." Vielleicht stimmte das, aber es war mehr als das. Es war ein Überlebenskampf, der sie formte, ein stetiges Weitergehen, um nicht zu zerbrechen. Ihr Leben hatte nie Platz für den Luxus von Ruhe gehabt.
„Ja, vielleicht“, murmelte sie schließlich, ihre Stimme war rau, aber nicht feindlich. „Vielleicht ist es so. Aber ich weiß nicht, ob ich je wirklich irgendwo angekommen bin, um es zu wissen.“ Ihr Blick driftete wieder in die Weiten des Waldes, als suchte sie nach einer Antwort, die sie nicht hatte.
Flimmerpelz trat näher, doch sie wich nicht zurück. Ihre Haltung blieb fest – unnachgiebig, wie der Stamm eines Baumes, der den Winden trotzt. Sie spürte seine Augen, die sie musterten, nicht mit der Skepsis eines Kriegers, sondern wie jemand, der etwas sieht, das er nicht ganz versteht. Sie verstand das Gefühl – es war, als ob er durch sie hindurchblickte, ihre Unsicherheiten, ihre Ängste, die sie so lange weggeschlossen hatte, als wären sie nichts weiter als Schatten.
„Du hast recht“, sagte sie nach einem langen Moment des Schweigens, ihre Worte wiegen schwer in der Luft. „Ich bin auf der Flucht. Aber... ich weiß nicht, ob ich es noch bin. Wenn man so lange rennt, weiß man irgendwann nicht mehr, ob man noch vor etwas wegläuft oder ob man nur noch... rennt, weil es alles ist, was man kennt.“
Ein bitterer Hauch entwich ihr, als sie das sagte, und für einen Augenblick brach die Fassade der Unnahbarkeit, die sie sich über all die Jahre aufgebaut hatte, ein Stück weit auseinander. Sie spürte es selbst – wie eine Wunde, die für einen Augenblick wieder schmerzte, nur um dann mit einem zähflüssigen, fast schmerzhaften Gefühl wieder zu heilen.
Flimmerpelz’ Worte zogen durch ihren Kopf, ließen etwas in ihr vibrieren. „Wenn du wirklich nur läufst – dann lauf weiter. Ich werd dich nicht halten.“ Der Gedanke daran, noch weiter zu laufen, fühlte sich seltsam leer an. Sie hatte nie aufgehört zu laufen, aber heute – in diesem Moment – war es, als ob der Weg einfach nicht mehr existierte. Es war, als stünde sie auf der Schwelle von etwas, das sie nicht fassen konnte.
„Und was dann?“, fragte sie schließlich leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Was, wenn man die ganze Zeit über nur läuft, aber nie weiß, wohin? Was bleibt dann?“ Sie drehte sich leicht, den Blick auf Flimmerpelz gerichtet, doch ihre Augen sprachen nicht von Trotz, sondern von einem tiefen, ungesagten Schmerz, der in den Ecken ihres Wesens lauert. „Was bleibt, wenn der Lauf zu Ende ist, und man einfach... nichts hat, wo man wirklich hingehört?“
Ein Hauch von Schwäche schlich sich in ihre Worte, doch sie kämpfte dagegen an. Sie konnte sich nicht fallenlassen – nicht jetzt. Doch Flimmerpelz’ Angebot, mit ihr zu sprechen, ohne Krallen, ohne sofortiges Urteil, schien wie ein Test. Ein Test, den sie nicht nur in ihm, sondern auch in sich selbst bestehen musste. Bleiben. Sie konnte bleiben. Oder sie konnte gehen. Aber was, wenn der Moment verstrich und sie nie wusste, ob es der richtige gewesen wäre?
„Du hast recht“, sagte sie erneut und streckte sich, den Kopf in den Nacken gelegt. „Ich habe nie wirklich gewusst, was es bedeutet, zu bleiben. Aber... vielleicht sollte ich es wissen.“
Langsam trat sie einen Schritt zurück, nicht aus Ablehnung, sondern aus einem unbestimmten Gefühl heraus, das sie nicht in Worte fassen konnte. „Vielleicht will ich nicht immer nur weglaufen. Aber ich will auch nicht glauben, dass das hier... das alles ist. Dass es nur darum geht, die Krallen zu zeigen, wenn man sich verletzt fühlt.“
Maulbeere drehte sich schließlich ganz um, und für einen Augenblick schien es, als würde sie sich auf etwas Neues einlassen – oder vielleicht nur auf etwas Unbekanntes, das sie noch nie gewagt hatte, zu berühren. Ihre Krallen fuhren nicht aus, und sie machte keinen Schritt in die Dunkelheit des Waldes. „Vielleicht ist es auch einfach, weil ich nicht mehr weiß, wie man bleibt.“
Maulbeere legte den Kopf schief. Ob aus Neugier oder Irritation, wer konnte das schon sagen? FrostClan. Ein Wort, das in ihren Ohren fremd und zugleich faszinierend klang. Da war wieder dieses Gefühl – als würde sie mit der Schnauze an eine unsichtbare Grenze stoßen, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Clan, Zweiter Anführer, Territorium – das alles klang nach Regeln. Nach Zugehörigkeit. Nach etwas, das ihr so fern war wie Schnee für jemanden, der nur die Blattgrüne kannte.
Flimmerpelz, wiederholte sie in Gedanken, fast so, als wollte sie sicherstellen, den Namen nicht zu vergessen. Ein Seufzer entwich ihr – leise, kaum hörbar, mehr für sich selbst als für ihn.
„Ich bin nicht hier, um etwas zu finden oder irgendwem etwas wegzunehmen“, begann sie. Ihre Stimme war noch immer ruhig, aber ein Hauch von Trotz lag darin – nicht spöttisch, nicht überheblich, sondern wie ein instinktiver Schutz. „Vielleicht ist das schwer zu verstehen… wenn man einen Platz hat. Aber ich laufe oft.“
Ihr Blick glitt nach oben, zu den hohen Baumwipfeln, die sich im Wind wiegten. „Ich laufe oft. Weil es leichter ist, zu gehen, als die Krallen auszufahren und zu bleiben. Es gibt immer jemanden, der einem sagt, man gehört nicht dazu. Oder der einen nur duldet, bis man im Weg steht.“
Ein kurzes, schiefes Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch ihre Augen blieben kalt. „Und wenn man oft genug fortgejagt wurde, lernt man irgendwann, vorher zu gehen. Bevor es überhaupt dazu kommt.“
Sie hob den Kopf, sah Flimmerpelz wieder direkt an. In ihren Augen lag Stolz – aber auch unterdrückte Unruhe und eine Müdigkeit, die sie hinter einer Fassade aus Selbstständigkeit gut zu verbergen wusste. „Ich habe niemanden, zu dem ich zurückkehren könnte. Und nichts, das mich irgendwohin geführt hätte. Ich bin einfach hier. Und wenn du sagst, ich soll gehen, dann gehe ich. Ich weiß, wann ich nicht willkommen bin.“
Der Wind spielte mit den Blättern über ihnen, ließ die Schatten tanzen, als spiegelten sie die Spannung zwischen den beiden – zwischen einem Leben, das sich nur auf sich selbst stützte, und einem, das auf Ordnung, Zugehörigkeit und festen Wurzeln baute.
Maulbeere wartete nicht auf Mitleid. Sie wollte es nicht. Sie erwartete Ablehnung – wie so oft.
Langsam richtete sie sich auf, trat einen Schritt zur Seite. Doch sie drehte sich noch nicht um. Noch nicht. Sie schwieg.
Maulbeere hatte den Hasen längst aus den Augen verloren. Er war flink gewesen, ein Schatten zwischen den Farnen, und sie hatte ihm nicht mit voller Ernsthaftigkeit nachgesetzt – eher halbherzig, mehr aus Spieltrieb denn aus echtem Hunger. Sie hatte heute schon gefressen. Ein kleiner Vogel am frühen Morgen, schnell und elegant erlegt. Ihr Fell roch Wald. Und nach Freiheit.
Sie war gerade dabei gewesen, sich unter einem dichten Busch ein wenig auszuruhen, als sie das Geräusch hörte. Ein kaum hörbares Rascheln, zu vorsichtig, um ein Beutetier zu sein. Die Luft roch plötzlich nach Kater. Nicht nach einem Hauskater – nach Wildnis, nach Wald, nach Autorität. Doch bevor sie richtig reagieren konnte, stand er vor ihr.
Groß. Breit gebaut. Das Fell dicht und kräftig, rotweiß wie Schnee bei Sonnenaufgang. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie ein scharfer Wind. „Und du bist?“
Maulbeere richtete sich langsam auf, ohne sich zu ducken, ohne zu fliehen. Ihre blauen Augen musterten den Kater mit einer Mischung aus Neugier, Misstrauen und stiller Herausforderung. Ihr Schweif zuckte leicht. Sie roch die Spannung, spürte die Macht, die von ihm ausging, aber etwas in ihr sträubte sich gegen das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Besonders vor jemandem, der gleich mit Drohgebärden kam.
Trotzdem – sie wollte keinen Streit. Nicht heute.
„Ich bin Maulbeere,“ sagte sie schließlich und hob das Kinn ein kleines Stück. Ihre Stimme war ruhig, klar, fast gelassen – aber wachsam. „Und bevor du mit dem Pelz zucken musst – ich suche keinen Ärger. Ich wusste nicht mal, dass das hier... irgendwem gehört.“
Sie trat einen Schritt zur Seite, nicht flüchtend, eher um etwas mehr Raum zwischen ihnen zu schaffen. Ihre Ohren waren leicht angelegt, nicht aus Angst, sondern aus Vorsicht.
„Ich bin alleine unterwegs. Streunerin, falls du das meinst.“ Sie sprach das Wort neutral aus, ohne Scham oder Stolz. „Ich bin einfach dem Hasen gefolgt. Ich wusste nicht, dass ich in deinem...“ – sie zögerte kurz, suchte nach dem richtigen Wort – „Territorium gelandet bin.“
Ihr Blick glitt prüfend über ihn. Die Haltung, der Blick, die Worte. Er erinnerte sie an etwas, das sie nie gekannt, aber immer gespürt hatte: Ordnung. Regeln. Ein System, in das sie nie hineingehört hatte. Vielleicht war er Teil einer Gruppe – eines Rudels? Doch Katzen lebten nicht in Rudeln... oder doch?
„Was bist du überhaupt?“, fragte sie dann und trat einen Schritt näher. Ihre Stimme war jetzt nicht mehr nur vorsichtig, sondern interessiert. „Ein Wächter? Ein Anführer?“ Sie blinzelte. „Du benimmst dich jedenfalls so.“
Maulbeere setzte sich hin, den Schweif ordentlich um die Pfoten geschlungen, und ließ ihren Blick nicht von ihm. Sie konnte kämpfen, wenn sie musste – aber sie war keine geborene Kämpferin. Ihre Stärke lag im Springen, im Jagen, im Beobachten. Sie wusste, dass sie gegen diesen Kater wahrscheinlich keine Chance hätte, wenn er es auf einen Kampf anlegte. Aber sie war nicht hier, um zu kämpfen. Gut war sie eh nicht und wenns drauf ankam würde sie fliehen, nicht das sie eh lange an einem ort blieb.
„Ich kann gehen, wenn du willst,“ sagte sie leise. „Ich war nur neugierig. Ich wusste nicht, dass man hier Fragen mit den Krallen stellt.“
Dann hielt sie inne, die Ohren nun leicht vorgedreht, aufnahmebereit, und wartete darauf, wie er reagieren würde. Ob er nur ein weiterer Grobian war – oder jemand, der vielleicht mehr war als bloßer Muskel und Pflicht.
Die Sonne hing wie eine goldene Scheibe am Himmel, ihre Strahlen glitten warm durch das Blätterdach und tanzten über den weichen Waldboden. Vögel zwitscherten in den hohen Ästen, und das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz verlieh dem Wald ein sanftes, lebendiges Summen.
Mit federnden Schritten glitt eine schlanke Gestalt durchs Unterholz – fast lautlos, doch mit einem Leuchten, das die Schatten ringsum herauszufordern schien. Es war Maulbeere. Ihr schwarzes Fell wirkte im Sonnenlicht beinahe blau, durchzogen von weißen Sprenkeln, die wie winzige Sterne über ihren Körper verstreut waren. An ihren Pfoten und entlang ihres Schweifs bildeten die helleren Muster fast fließende Linien, die an Eisstreifen oder das Glitzern eines Bachlaufs erinnerten.
Mit einem Satz sprang sie auf einen umgestürzten Baumstamm, ließ den Schweif in die Luft schnellen und balancierte mühelos über das knorrige Holz. Ihre blauen Augen glänzten vor Neugier. Jeder Ast, jeder moosbedeckte Stein war für sie eine Einladung.
"Ha! Ich wette, keine andere Katze käme da rauf," murmelte sie mit selbstzufriedener Stimme und kicherte leise in sich hinein. Der Baumstamm neigte sich leicht, aber Maulbeere zeigte keine Furcht – im Gegenteil. Sie sprang ab, wirbelte durch die Luft und landete auf einem dicken Teppich aus Laub. Für einen Moment lag sie still, horchte auf das entfernte Klopfen eines Spechts, dann stand sie wieder auf und schüttelte sich.
Freiheit. Das war ihr Element. Keine Regeln, kein "du darfst nicht", keine fremde Stimme, die ihr sagte, wo sie zu sein hatte. Und wenn doch jemand auf die Idee käme, ihr Befehle zu geben – Maulbeere hätte es vermutlich gerade deshalb nicht getan. Nicht aus Bosheit, sondern weil ihr Herz sich nur lenken ließ, wenn es selbst dafür bereit war.
Ein Zittern huschte durch das Unterholz. Maulbeere hielt inne. Ein Reh? Ein Fuchs? Kurz spannte sie die Muskeln an, lauerte. Doch es war nur ein Hase, der erschrocken davonhoppelte. Sie grinste. "Vielleicht beim nächsten Mal."
Mit einem letzten Blick zum Himmel, wo sich keine einzige dunkle Wolke zeigte, trabte Maulbeere tiefer ins Grün, auf der Suche nach neuen Gerüchen, neuen Spuren, wer weiß was noch kommen mag
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