@Flimmerpelz
Maulbeere hatte den Hasen längst aus den Augen verloren. Er war flink gewesen, ein Schatten zwischen den Farnen, und sie hatte ihm nicht mit voller Ernsthaftigkeit nachgesetzt – eher halbherzig, mehr aus Spieltrieb denn aus echtem Hunger. Sie hatte heute schon gefressen. Ein kleiner Vogel am frühen Morgen, schnell und elegant erlegt. Ihr Fell roch Wald. Und nach Freiheit.
Sie war gerade dabei gewesen, sich unter einem dichten Busch ein wenig auszuruhen, als sie das Geräusch hörte. Ein kaum hörbares Rascheln, zu vorsichtig, um ein Beutetier zu sein. Die Luft roch plötzlich nach Kater. Nicht nach einem Hauskater – nach Wildnis, nach Wald, nach Autorität. Doch bevor sie richtig reagieren konnte, stand er vor ihr.
Groß. Breit gebaut. Das Fell dicht und kräftig, rotweiß wie Schnee bei Sonnenaufgang. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie ein scharfer Wind. „Und du bist?“
Maulbeere richtete sich langsam auf, ohne sich zu ducken, ohne zu fliehen. Ihre blauen Augen musterten den Kater mit einer Mischung aus Neugier, Misstrauen und stiller Herausforderung. Ihr Schweif zuckte leicht. Sie roch die Spannung, spürte die Macht, die von ihm ausging, aber etwas in ihr sträubte sich gegen das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Besonders vor jemandem, der gleich mit Drohgebärden kam.
Trotzdem – sie wollte keinen Streit. Nicht heute.
„Ich bin Maulbeere,“ sagte sie schließlich und hob das Kinn ein kleines Stück. Ihre Stimme war ruhig, klar, fast gelassen – aber wachsam. „Und bevor du mit dem Pelz zucken musst – ich suche keinen Ärger. Ich wusste nicht mal, dass das hier... irgendwem gehört.“
Sie trat einen Schritt zur Seite, nicht flüchtend, eher um etwas mehr Raum zwischen ihnen zu schaffen. Ihre Ohren waren leicht angelegt, nicht aus Angst, sondern aus Vorsicht.
„Ich bin alleine unterwegs. Streunerin, falls du das meinst.“ Sie sprach das Wort neutral aus, ohne Scham oder Stolz. „Ich bin einfach dem Hasen gefolgt. Ich wusste nicht, dass ich in deinem...“ – sie zögerte kurz, suchte nach dem richtigen Wort – „Territorium gelandet bin.“
Ihr Blick glitt prüfend über ihn. Die Haltung, der Blick, die Worte. Er erinnerte sie an etwas, das sie nie gekannt, aber immer gespürt hatte: Ordnung. Regeln. Ein System, in das sie nie hineingehört hatte. Vielleicht war er Teil einer Gruppe – eines Rudels? Doch Katzen lebten nicht in Rudeln... oder doch?
„Was bist du überhaupt?“, fragte sie dann und trat einen Schritt näher. Ihre Stimme war jetzt nicht mehr nur vorsichtig, sondern interessiert. „Ein Wächter? Ein Anführer?“ Sie blinzelte. „Du benimmst dich jedenfalls so.“
Maulbeere setzte sich hin, den Schweif ordentlich um die Pfoten geschlungen, und ließ ihren Blick nicht von ihm. Sie konnte kämpfen, wenn sie musste – aber sie war keine geborene Kämpferin. Ihre Stärke lag im Springen, im Jagen, im Beobachten. Sie wusste, dass sie gegen diesen Kater wahrscheinlich keine Chance hätte, wenn er es auf einen Kampf anlegte. Aber sie war nicht hier, um zu kämpfen. Gut war sie eh nicht und wenns drauf ankam würde sie fliehen, nicht das sie eh lange an einem ort blieb.
„Ich kann gehen, wenn du willst,“ sagte sie leise. „Ich war nur neugierig. Ich wusste nicht, dass man hier Fragen mit den Krallen stellt.“
Dann hielt sie inne, die Ohren nun leicht vorgedreht, aufnahmebereit, und wartete darauf, wie er reagieren würde. Ob er nur ein weiterer Grobian war – oder jemand, der vielleicht mehr war als bloßer Muskel und Pflicht.